Es ist erstaunlich, dass sich in der Odenwaldbevölkerung die Erinnerung an einen einfachen Menschen über einen Zeitraum von über hundert Jahren erhalten konnte, obwohl dieser keine außergewöhnlichen, mildtätigen oder gemeinnützigen Taten vollbracht hatte. Immerhin war die, „Dachsenfranz“ genannte Person eine rustikale Persönlichkeit, die allein durch ihre imponierende Erscheinung einen besonderen Eindruck bei der bäuerlichen Bevölkerung erweckte, aber mehr noch durch ihre ungewöhnliche Lebensweise von sich reden machte.
Mit richtigem Namen hieß der „Dachsenfranz“ Francesco Regali und stammte aus Italien. Schon als junger Bursche fiel es ihm schwer, sich in die bürgerliche Gesellschaft einzuordnen. Als er um 1866 seinen Militärdienst ableisten musste, war der Konflikt mit seinen Vorgesetzten unausweichlich. Als er im Dienst zu nachlässig wurde, musste er in der glühenden Hitze Italiens tagelang Strafexerzieren. So kam es wieder einmal zu einer Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten. Dabei stach er diesen im Affekt mit einem Messer nieder. Um der drohenden Strafe zu entgehen, floh er über Österreich nach Süddeutschland. In den dichten Wäldern des Odenwaldes war er vor einer italienischen Strafverfolgung relativ sicher und fand eine neue Heimat. Regali war durch seine Lebenserfahrung menschenscheu geworden und wollte kein festes Zuhause mehr. Darum lebte er meistens als Eremit in natürlichen Erdlöchern in den Wäldern des vorderen Odenwaldes und des Kraichgaus. Dabei bevorzugte er die Gegenden um Nieder-Liebersbach im Kreis Bergstraße, die Waldbereiche um die Dörfer Ritsch-, Rippen- und Rittenweier im badischen Odenwald und die Berghänge um Zuzenhausen im Elsenztal. Dass er hier eine neue Heimat fand, ist nicht verwunderlich, da es gerade im Granitsteingebirge viele überhängende Felsformationen gibt, die bestens für einen vorübergehenden Unterschlupf geeignet waren. Seine einfachen Mahlzeiten bereitete er als Suppe oder Brei in einem Kessel über offenem Feuer zu. Schlaf fand er in einer Erdhöhle, die er mit Gras, Streu und Tierfellen ausgepolstert hatte. Zwei Hunde waren seine einzigen Freunde und ständigen Begleiter. Den Lebensunterhalt bestritt Regali durch das Jagen von sogenanntem Raubwild, wie Füchsen, Mardern, Katzen, Mäusen, Fischottern, Ratten, Dachsen usw. Dies war zur damaligen Zeit keine Wilderei, im Gegenteil, sowohl die Jägerschaft als auch die Bauern waren über die Reduzierung des „Lumpenzeugs“, wie sie diese Tiergattung nannten, dankbar. Das Fleisch der gejagten Tiere wurde von ihm gebraten und verspeist. Aus dem Verkaufserlös der Tierfelle beschaffte er die wichtigsten Lebensnotwendigkeiten. Den Namen Dachsenfranz bekam er durch die Weiterverwendung eines Teils der getöteten Waldtiere. Aus dem Fett der gefangenen Dachse und vielleicht auch anderer Tiere bereitete er unter Beimischung verschiedener Kräuter, eine besondere Salbe, mit deren Hilfe so manche Bauersfrau ihre Gebrechen lindern konnte. Sein selbstgemachtes „Dachsfedd“ war als Schutz für den Körper unter den Bauersleuten sehr begehrt. Die Erinnerung an diesen ungewöhnlichen Menschen ist besonders in Rittenweier noch bestens bekannt.
In der Gastwirtschaft des „Jöste Andres“ hängt heute noch ein Bild an der Wand, dass den Eremiten mit seinen beiden Hunden im Wald vor seiner Erdhöhle zeigt.
Da er im Wald hauste und sich, aus Ermangelung einer adäquaten Möglichkeit, besonders in der kalten Jahreszeit, auch selten wusch, verbreitete er einen gewissen „Duft“. Dies ergab, dass Damen
denen er unmittelbar begegnete, die Nase rümpften. Bemerkte er dies, gab er zur Antwort:
„Mudderle, ich stink doch nett, ich riech doch bloß nach Dachsfedd“
Äußerst willkommen und erfolgreich war Regali als Rattenfänger auf Bauernhöfen und in Mühlen. Regelmäßig besuchte er die benachbarten Täler an der Bergstraße und im Kraichgau. Postkarten von damals belegen seinen hohen Bekanntheitsgrad. Dies brachte ihm den Beinamen „Raubtierfänger“ ein. Einem Müller in Maulbronn fing er in dessen Betrieb in nur drei Wochen die enorme Zahl von 48 Ratten und bewahrte ihn damit vor größerem Schaden. Aus Dankbarkeit widmete der Müller ihm ein Gedicht:
„Francesko Regali, der Dachsenfranz,
fing alle Ratten samt dem Schwanz.
Wie einst der Rattenfänger von Hameln,
nur ließ er sie im Eisen bammeln!“
Ein großes Geheimnis machte der Dachsenfranz um seine Wohnhöhle. Der Boden war mit Laub und Heu bedeckt und mit Fellen ausgepolstert. Nie ließ er einen seiner zahlreichen Besucher ins Innere blicken. Zwei Hunde, die beide den gleichen Namen trugen, waren seine stetigen Begleiter und bewachten den Wohnbereich. Eine Ausnahme machte er nur, wenn er Damenbesuch erhielt. Mägde aus den umliegenden Bauereien und Mühlen, in denen er in eisigen Winternächten Zuflucht suchte und als geübter Rattenfänger gern gesehen war, sollen ihn auch an wärmeren Tagen nicht vergessen haben. Weibspersonen sagten dem wilden Mann mit dem wallenden Bart und den tiefdunklen Augen, die so feurig funkeln konnten, nach, dass er sehr zärtlich sein konnte!
Manchem Zeitgenossen mag es wohl in die Glieder gefahren sein, wenn er dem sonderbaren Kauz im Wald oder im Halbdunkel begegnete, aber er hat hier nie jemandem etwas zu leide getan.
Redselig war er schon. Gern erzählte er von seinem Handwerk, der „Jagd auf alles Lumpenzeug“ (Raubwild, siehe oben). Die Felle verkaufte er, das Fleisch aß er selbst,
entweder roh, gepökelt in einer Blechbüchse oder aber auch gedünstet oder
gebraten. Dazu hängte er das rohe Fleisch über eine freie Feuerstelle und ließ
den Rauch und die Flamme empor lodern. Förster und Jäger ließen ihn gewähren,
wilderte er doch nie Edelwild. Auf seine Lieblingsspeise von Besuchern
angesprochen, antwortete er immer gleich: „Has’ zäh - Katz zart“!
Trotz aller Genügsamkeit war der Dachsenfranz auch ein Feinschmecker. Er verstand es bestens, sein von ihm erlegtes Wildbret in wohlschmeckende Mahlzeiten zu
verwandeln. In einer Überlieferung wird von einem legendären Rezept „Dachs a’
la Dachsenfranz“ erzählt, das bei Genießern in bester Erinnerung geblieben ist.
Einmal besuchte ein reicher Privatwaldbesitzer von der Bergstraße den Einsiedler im Odenwald und bat ihn um einen Gefälligkeitsdienst, den er mit einer Flasche Wein entlohnen wollte. Der
Dachsenfranz erfüllte die Bitte und einige Tage später kam der
Auftraggeber mit der versprochenen Flasche Wein. Der Inhalt der Flasche bestand nicht aus Trauben-, sondern aus profanem Apfelwein. Jetzt musste der Bergsträßer erfahren, dass der gemütliche
Waldbewohner auch einmal recht ungehalten werden konnte.
„Du bringst mir als Lohn für meine gute Arbeit eine Flasche Apfelwein, dieses Getränk kann ich auf jedem Odenwälder Bauernhof bekommen!“ Darauf zog der Gescholtene ab und brachte einige Tage später eine Flasche vom besten Lützelsachsener Rotwein, damit konnte er den Dachsenfranz wieder milde stimmen.
Ernsthaft erkrankt war er nie, höchstens eine „Influenza“ habe er je gehabt. Die habe er aber mit seinem bewährten Hausmittel schnell vertrieben. Dies bestand aus drei Zwiebeln, etwas Pfeffer, 40 Tropfen seines Universalmedikamentes „Expellier“, drei Salzheringen samt Gräten und drei Schoppen Wasser. Nach dem Trinken habe er sich in die Höhle gelegt, tüchtig geschwitzt und war andern Tags wieder gesund.
Als 1914 die deutschen Männer zur allgemeinen Mobilmachung gerufen wurden und sich ein Krieg abzeichnete, erfasste den Dachsenfranz die in seiner Jugend geprägte Militärangst und er verschwand auf Nimmerwiedersehen. Es wurde gemunkelt, er habe sich in die neutrale Schweiz abgesetzt.
Die einfachen Lebensweisheiten des Dachsenfranz haben heute noch, in unserer so modernen Zeit, ihre Gültigkeit: Er zeigte uns, wie ein Leben im Einklang mit der Natur möglich ist! Durch seinen nachhaltigen Umgang mit den vorhandenen Rohstoffen, lebte er vor, wie wir unsere natürlichen Ressourcen schützen und bewahren können! Uneigennützige Hilfsbereitschaft für die Allgemeinheit und die Achtung der Mitmenschen sind unvergängliche Werte! Auch wer genügsam lebt, nicht nach übermäßigem Reichtum strebt und bodenständig bleibt, kann sein Leben genießen, dazu ist kein Überfluss notwendig!
Höhere Weihen erhielt der Dachsenfranz in jüngerer Vergangenheit. Die Privatbrauerei ADLER in Zuzenhausen hat sich um das Andenken an den „Dachsenfranz“ besonders verdient gemacht. Sie vertreibt einige ihrer Bierspezialitäten in Bügelflaschen mit dem Namen des originellen Zeitgenossen: „Dachsenfranz Bier“
Zwischen Horrenberg und Dielheim wurde 2008 im Wald eine „Dachsenfranzhöhle“ rekonstruiert, welche frei zugänglich ist und besichtigt werden kann. Mittlerweile werden auch geführte Wanderungen zur Höhle angeboten.